Im Reich der zügellosen Geister - Teil 2
« | 16 Feb 2020 | »Neben all den einzigartigen Erlebnissen, die ich bei “den zügellosen Geistern”, also in meiner Gruppe mit geistig behinderten Menschen erleben durfte, gab es neben Licht auch Schatten.
Bis heute lässt mich die Frage:
Wie weit darf man gehen?
immer wieder an einige Szenen von damals denken.
Genau in jenen Tagen, als mein Zivildienst am Laufen war, gab es parallel in den Medien die Debatte, wie man Misshandlungen von Menschen verhindern kann.
Auslöser waren Berichte über aggressives Verhalten von Betreuern in Altersheimen, die - so der Medienbericht - gerne mal die Klienten ohrfeigten oder andere Böswilligkeiten an den oft bettlegrigen Menschen ausließen.
Dass es für ein solches Verhalten überhaupt keine Entschuldigung gibt und
eine Strafverfolgung einzusetzen ist, ist für mich klar.
Schlimm sind aber Fälle, die in Grauzonen auf einen lauern, wo es extrem
schwierig ist, die “richtige” Entscheidung zu treffen.
‘Gleichheit’ versus ‘Arm gegen Reich’
Vom Verhalten her waren viele meiner Klienten mit Kindern vergleichbar. Und welches Kind freut sich nicht über ein Stück Schokolade. … vorausgesetzt man bekommt je eines …
Abhängig vom sozialen Status der Familie des Klienten, kommt zu manchen Klienten wöchentlich oder monatlich ein Verwandter oder Sachwalter, der aus dem dafür vorgesehenen Budget “Goodies” für seinen Schützling kauft, oder eben nicht.
Der Staat und die Heimleitung stellt hingegen nur die “Grundversorgung” sicher, hat aber kein Budget, dass jeder sein “gerechtes” Stück Schokolade bekommt.
Wenn nun also in einer Wohngruppe von 12 Personen, die eine Hälfte regelmäßig
ausgiebig beschenkt wird und die zweite Hälfte mit offenen Augen und
tropfenden Mündern daneben stehen muss, ist Streit “vorprogrammiert”.
Und solche Spannungen können auch gehörig ins Auge gehen.
Als Betreuer hat man nun die Möglichkeit “umzuverteilen”, denn geistig behinderten Menschen etwas einzureden, kann manchmal recht leicht sein.
Man schafft also ein für alle angenehmes Klima, in welchem der reichere auf einen kleinen Anteil seines “Eigentums” verzichtet und die Ärmeren dafür einen Funken Glück verspüren dürfen … eine Freude für alle Sozialisten ;).
Aber ist das wirklich gerecht? Widerspricht das nicht auf allen Ebenen der korrekten Behandlung von beeinträchtigten Menschen? Darf man, nur weil es gerade leicht geht, manipulieren und den Leuten “etwas einreden”?
Ich behaupte einfach: Ja, weil die Konsequenzen im anderen Fall negativer
ausfallen.
Die korrekte Lösung wäre natürlich, dass eine solche Ungleichheit erst gar
nicht auftritt. Jeder behinderte Mensch sollte einen Sachwalter haben, der für
ihn eben auch solche Kleinigkeiten einkauft, damit erst gar keine Ungleichheit
aufkommt.
Doch dem war damals leider nicht so.
… bis der Arzt kommt
Ein ganz schwieriges Thema sind offen ausgelebte Aggressionen.
Wann immer Menschen auf engem Raum von Problemen umgeben sind, kann es leicht
passieren, dass irgend wer “Dampf ablassen” will und schon steht die Bude
in Flammen.
In der Theorie geht man als Betreuer ruhig auf den Mitmenschen zu und
überzeugt ihn mit Worten sein schädliches Verhalten einzustellen.
Bei Star Trek werden so sogar galaktische Kriege verhindert.
Doch in Praxis läuft es leider nicht immer so harmonisch ab.
(Ich will dabei gar nicht leugnen, dass es oft auch so positiv verläuft, doch eben leider nicht immer.)
Wenn also die Situation mit diplomatischen und verbalen Methoden nicht gelöst werden kann … ja was dann?
Offiziell dürfen “einfache” Betreuer Klienten in keinster Weise festhalten oder fixieren. Wenn also jemand ausrastet muss die Polizei verständigt werden, die den Klienten fixiert bis ein Arzt anwesend ist, der medikamentös eingreift und im weiteren Sinne die Medikation so weit hinaufsetzt, dass der Mensch gar nicht mehr in der Lage ist “Aggressionen herauszulassen”.
Das ist rechtlich abgesichert und wurde gelegentlich auch so praktiziert. Der Schaden, der durch diese medizinische Methode angewendet wird steht aber im krassen Widerspruch zum Motto, dass jene Menschen für ein “normales” Leben vorbereitet werden sollen.
Und dann gibt es da noch inoffiziell die Schock-Methode, die “offiziell”
natürlich “nie” angewendet wurde:
Mit einem lauten dominierenden Schrei und donnernden Zurechtweisungen
wird die Eskalation in wenigen Sekunden beendet.
Diese Methode wirkt äußerlich brutal, doch sie zeigte sich zu 100%
wirksam.
Manche Personen steigerten sich systematisch in ihren “Wahnsinn” hinein.
Ruhiges zureden wirkte da wie Brennstoff um noch lauter zu erwidern
bis die ersten Gegenstände durch die Luft flogen.
Doch ein dominanter Schrei, der alle im Raum zusammenzucken ließ,
brachte wieder Ordnung in die Gruppe.
Ja, es war, als wäre man unter Tieren. Wenn ein Leitwolf den Ton angab, herrschte Frieden, doch fehlte diese Bestimmtheit, kam es alle 1-2 Wochen zu Zwischenfällen.
Und was ist jetzt besser?
Im autoritären Stil Unruhen im Vorfeld abzuwenden, oder den diplomatischen
Weg gehen, der dann zum Polizeieinsatz führt und den Klienten chemisch
die nächsten Monate ruhigstellt.
Dieser Fall ist besonders schwierig, denn wenn man als Betreuer selbst zu härteren Geschützen greift, stellt sich die Frage, ab wann man die Grenze des Akzeptablen überschreitet.
Ich kann zwar garantieren, dass es in meiner Zeit nie zu Gewalt oder
überzogener verbaler Brutalität kam, aber besonders ein Außenstehender muss
bei der Beobachtung einer solchen Handlung einen “merkwürdigen” Eindruck
erhalten.
Und was passiert mit einem, wenn man diesen Job sein ganzes Leben lang macht?
Bei mir war nach 2 Jahren Schluss, aber wer weiß wie ich mich entwickelt
hätte, wären solche wöchentlichen Belastungen zu meinem Beruf geworden.
Fazit
Ja, man muss diesen Berufszweig durchaus auch kritisch betrachten. Mit Menschen zu arbeiten ist weit aus schwerer, als Maschinen zu warten, denn jeder - wirklich jeder - reagiert anders.
Jede Woche treten mehrere Situationen auf, die man weder mit Ja oder Nein, noch mit Gut oder Böse klassifizieren kann und trotzdem muss man in der Sekunde eine Entscheidung treffen.
Dennoch möchte ich für meine damaligen Kollegen ausnahmslos eine Lanze brechen und hiermit dokumentieren, dass sie stets im besten Gewissen gehandelt haben.
Die Frage, ob ein Betreuer in einer kritischen Situation richtig oder falsch gehandelt hat sollte hinter folgende eingereiht werden:
Hat die Verwaltung / die Gesellschaft / der Staat ausreichend unterstützt und Mittel zur Verfügung gestellt.
Meine Antwort für damals ist: Nein!
Es fehlte vor allem an Personal. Gäbe es für jeden Klienten einen Betreuer,
wäre die optimale Betreuung nahezu garantiert.
Wenn aber 2 Diensthabende zwischen 10 und 15 Menschen quasi gleichzeitig alle
unterstützen und kontrollieren sollen, wird es schwierig. Denn während einer
notwendige Besorgungen macht oder das Mittagessen kocht, ist der zweite
gefordert alle Personen über 6 Räume hinweg im Überblick zu behalten und
neben Toilettgängen und persönlicher Unterstützung auch noch “die Ordnung”
in der Gruppe aufrecht zu halten.
Und genau dafür sollte mehr Verständnis und Anerkennung geschaffen werden. Ja, Betreuung und Pflege ist teuer, und obwohl sich vieles verbessert hat, wird leider immer zuerst in diesem Bereich gespart.
Daher nochmals ein kräftiges Danke an all jene guten Seelen, die ihr
Leben den “schwierigeren” Mitmenschen widmen.
Bleibt eurem guten Werk und den besten Vorsätzen treu!
Und fordert auch von uns Außenstehenden die nötigen Mittel ein, die
ihr für eure Aufgaben benötigt.
Denn wenn es um die Fragen geht:
Bauen wir eine weitere Autobahnspur?
oder
Finanzieren wir ausreichend Betreuer in den Heimen?
sollte es keine Sekunde dauern, bis dem letzteren zuerst einstimmig der Geldfluss genehmigt wird.