Im Reich der zügellosen Geister - Teil 1
« | 08 Feb 2020 | »Der Schauspieler und Author Joachim Meyerhoff veröffentlichte im Jahr 2013 sein Buch “Wann wird es endlich wieder so wie es nie war”.
Und ich bedauere zu tiefst, es bis heute nicht gelesen zu haben.
Doch als er es damals im Fernsehen vorstellen konnte und seine
Kindheitserinnerungen zum Besten gab, erinnerte ich mich an eine
ganz besondere, etwas eigenartige und vielleicht wichtigste
Zeit in meinem Leben: Der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung.
YouTube hat die Aufnahme von Joachim Meyerhoff bei Markus Lanz zum Glück konserviert, und so kann ich auch heute noch lebhaft darüber lachen.
Im Nachgang kreisen meine Gedanken aber stets um eine Gruppe Menschen, die ich vor über 15 Jahren kennenlernen durfte. Einige werden heute vermutlich nicht mehr am Leben sein.
Zivildienst
Wer weiß schon, was auf ihn zukommt, wenn er im Zuge der militärischen
Musterung den “Zivildienst” als Alternative zur Grundwehrausbildung wählt.
In meinem Fall war es zu einem großen Teil die Ablehnung einer
“Befehlsstruktur” und auch das Wissen, dass meine Unsportlichkeit mir im
erwarteten Laufschrittdrill nur Probleme liefern würde.
Und Stanley Kubriks Film
Full Metal Jacket war dann
der letzte Sargnagel für das Thema Grundwehrdienst.
Heute würde ich aber sagen, dass genau das ein schlechter Grund ist, sich für die Zivildienst zu melden. Man sollte viel mehr die Chance sehen, einen Arbeitsbereich kennenzulernen, den man weder schulisch noch literarisch vermittelt bekommt.
Und so verschlug es mich ein Jahr lang in ein Heim für Menschen mit geistiger
Behinderung, um in einer Wohngruppe mit 12 Personen Tag aus Tag ein den
dortigen “Alltag” zu unterstützen.
Nie zuvor hätte mir gedacht, dass ich diesen “Dienst” um ein weiteres Jahr
verlängern würde … doch so geschah es.
Die Wohngruppe
In vier Zimmern wohnten:
- Bernhard, Walter, Christian, Adolf
- Bernhard, Erwin, Ulrich, Eduard,
- Alfred und Walter
- Johann und “Hansi”
Und dass ich diese “besonderen” Herrschaften heute noch im Kopf habe, nachdem ich mich an die Namen von Kollegen von vor zwei Jahren schon nicht mehr erinnern kann, liegt wohl daran, dass es vermutlich die “persönlichsten” Begegnungen meines Lebens waren.
Theoretisch war die Aufgabe einfach:
- Jeden Morgen ab 7:00 Uhr alle bei der Morgentoilette unterstützen und für die Arbeitsgruppe fertig machen.
- Die Wäsche in die Waschmaschinen schaffen.
- Dann war bis 14:00 Uhr Freizeit
- Am Nachmittag alle Leute wieder zurückholen.
- Ein paar Beschäftigungen und Spiele begleiten.
- Das Abendessen vorbereiten.
- Bei der Einnahme der Mahlzeit unterstützen und danach die Medikamentenausgabe überprüfen und die Einnahme sicherstellen.
- Alle Leute bettfertig machen und ab 20:00 Uhr an den Nachtdienst übergeben.
… aber so nüchtern lief das fast nie ab …
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Viele Arbeiten waren mit der Altenbetreuung verwandt. Und als 18-jähriger ist es schon recht abstrakt darüber nachzudenken, dass auch für einen selbst mal die Zeit kommt, wo ein anderer einen ausziehen und in die Dusche führen muss. Dass man gewaschen wird, oder ein Fremder die Zahnbürste führt, die die letzten drei Zähne putzt.
Vermutlich sind es dann genau diese intimen Dienste, die eine ganz andere Verbindung zu Menschen aufbaut, so wie man das weder in der Schulzeit und schon gar nicht in der regulären Arbeitswelt vorfindet.
Und als einer meiner “Klienten” (ja so heißt das offiziell), nämlich “Bernhard”, nach dem Abendessen zu mir:
Danke, Vater
sagte, war es gleichsam verstörend wie auch tief berührend für mich.
Denn eine Behinderung macht Menschen abhängig. Und da kann man immer wieder neunmalklug behaupten:
Behindert ist man nicht, behindert wird man.
Aber am Ende sehen jene Menschen selbst, dass sie eben “anders” sind, dass sie mit der sich selbst als “normal” bezeichnenden Welt nicht zurecht kommen und sie sehen, dass es andere gibt, die keine Probleme haben.
Da spielt es weniger eine Rolle, dass man seine Hand nicht unter Kontrolle hat und einen Buntstift nicht halten kann, sondern das Wissen, dass “andere” das spielend leicht hinbekommen.
Zorn und Wut, die ich an manchen Tagen dort miterleben durfte, würden für
Außenstehende extrem wirken und das sofortige Abschotten auslösen.
Wenn man aber miterlebt, wie hart der Kampf gegen die eigene Natur und die
Anforderungen der Umgebung ist, dann wird einem einerseits bewusst, wie
unglaublich glücklich man sein sollte, selbst keinen Einschränkungen zu
unterliegen, und wie verständlich eine “ungute” Reaktion überhaupt erst
entsteht.
Und es tut einem selbst weh, die blutverschmierten zerbrochenen Wandfliesen wegräumen zu müssen, nachdem mein “Mensch-ärgere-dich-nicht” Mitspieler von vor einer Stunde, plötzlich seinen Kopf mit aller Wucht gegen die Wand schlug, um seine Frustration abzureagieren.
Und dann gab es noch diese unglaublich vielen anderen Momente, wo eine kindliche Umarmung und ein Ausdruck wie an Weihnachten den Raum erhellte, weil das Lieblingsessen auf dem Tisch stand, oder eine Zeichnung einer Blumenwiesen gelungen war.
Zu den schönsten Erinnerungen zählt für mich der Tag, an dem “Hansi”, der wegen seiner spastischen Lähmung kaum sprechen konnte, mir über Handzeichen und Wiederholung von einigen wenigen Worten vermitteln konnte, dass seine Betreuerin Geburtstag hätte und er ihr gerne etwas schenken würde.
Ich hatte das nicht so bedeutend gefunden und ging daher am Vormittag an einem Blumenladen vorbei und nahm ein kleines Sträußchen für ihn mit.
Und als ich am Nachmittag Hansi im Rollstuhl aus seiner Arbeitsgruppe holte und ihm das Sträußchen auf den Schoß legte, erlebte ich ein Abenteuer:
Ich habe in meinem gesamten Leben nie wieder einen Menschen so nervös und aufgeregt erlebt, als wir 10 Minuten von Gebäude A nach B fuhren. Und als wir bei seiner Betreuerin ankamen wurde es noch intensiver. Unter Tränen schaffte es Hansi gerade noch “Danke, Danke” und ein paar Silben von “Geburtstag” herauszubekommen und im gleichen Augenblick brauch auch sein Gegenüber in Tränen aus.
Das mag jetzt äußerlich kitschig wirken, aber für mich war das derart befremdlich und gleichsam so herzzerreißend, dass “ein paar billige Blumen” so eine Reaktion auslösen konnten. Vielleicht war es das erste Mal in seinem Leben, dass Hansi - er war damals um die 60 Jahre alt - einem anderen etwas “geben” konnte. Und ich möchte behaupten, dass die Möglichkeit, dass er selbst etwas herschenken konnte, ihm mehr Freude bereitet hat, als wenn man ihm 100 Geschenke übergeben hätte.
Diese Szene hat mich mehr zum Nachdenken gebracht, als es 10 Bücher oder
Filme zu dem Thema hätten tun können. Es war eine neue Erfahrung was
“Wertschätzung” bedeuten kann, und wie unglaublich abgestumpft ich selbst
und die “normale” Welt da draußen eigentlich waren.
Eine solche starke Kraft von Emotionen und Freude erleben wir nur noch
selten im Alltag, obwohl diese Fähigkeit in uns allen innewohnt.
Es mag eine Ironie in sich sein, dass ich ausgerechnet in einem Heim, in dem offiziell Menschen mit “reduzierten menschlichen Fähigkeiten” leben, mehr Menschlichkeit erleben durfte, als anderorts.
Fazit
Heute sitze ich - wie alle paar Monate - wieder vor meinem Foto-Verzeichnis und denke an meine beiden Jahre im “Reich der zügellosen Geister” zurück. Dort wo das Innere ohne Maske nach Außen drang und wo mein Spiegelbild aufhörte zweidimensional zu reflektieren.
Auch wenn mein Lebensweg in eine andere Richtung ging - und ja, das musste so sein, denn ich hätte nicht in beiden Welten gleichzeitig leben können - ich werde jene besonderen Seelen von damals niemals vergessen können.
Danke an euch für die schöne Zeit und diese kostbare Erfahrung!