Sicherungshaft
« | 03 Mar 2019 | »Anfang der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verschwand nahe eines Bauerndorfes in der nördlichen Ostmark ein junger Mann spurlos. Er sollte mit zwei Ochsen den Acker pflügen. Die Ochsen fand man verlassen auf dem Feld und seine Mutter weinte - wie man so sagte - “kübelweise”.
Etwas später langte der Verhaftungsbescheid bei der Familie ein, dass der 17-Jährige wegen Hetzerei gegen den Staat “zur Sicherheit” in Gewahrsam genommen wurde, weil Mitbürger sein aufrührerisches Verhalten gemeldet hatten.
Das “aufrührerische Verhalten” war die trotzige Weigerung die “rechte Hand” beim Gruß zu heben oder Sprüche zu klopfen wie nachfolgend:
Gott der Herr schuf Menschen und Tiere,
nur keine Unteroffiziere,
doch in einer schwachen Stunde
schuf der Herr auch diese Hunde.
Dieser damals junge Mann war mein inzwischen lange verstorbener Großvater.
Seit Jahrtausenden (zumindest seit Aristoteles) geht die Welt kontinuierlich unter, weil die Jungen nicht so wollen, wie die Alten es vorgesehen haben.
Aber was passiert, wenn eine Ideologie oder eine Weltanschauung so radikal wird, dass sie Jugendliche zur Disziplinierung und Abschreckung verhaftet?
Nun, im “glorreichen” dritten Reich ging das für viele tödlich aus, egal wie viel “arisches” Blut man in sich hatte. Auch mein Großvater war für die Strafdivision 999 (Strafbataillon 999) vorgesehen, wo aufmüpfige Bürger ihre Treue zum Vaterland wiederfinden sollten. Ob man jetzt von vorne vom Feind oder von hinten wegen Fahnenflucht von Kugeln zerfetzt wurde, war letztendlich auch schon egal.
Ein Arzt, dem der junge Sträfling während seiner “Haft” zur Hilfe zugeteilt wurde, bewirkte, dass mein Großvater mit wenigen anderen nicht an die Front geschickt wurde, und so bekam der inzwischen 18-Jährige eine neue Aufgabe:
Da in jener Zeit für einige Menschen offenbar Kugeln zu schade waren, erlebte
das Schafott eine Renaissance.
So wurden unzählige Menschen per Fallbeil “entsorgt”.
Und wer war dazu abkommandiert den “Dreck” wegzuräumen?
So entstand dann dieser Lebenslauf:
- Schule
- Feldarbeit
- Abgetrennte Leichenteile verscharren
Erst als “der Russe” vor den Toren Wiens stand und einige Vertreter der Herrenrasse die Flucht ergriffen, gelang es meinem Großvater und einigen seiner Zellengenossen durch einen zuvor ausgekundschafteten geheimen Weg zu entfliehen.
Die Flüchtenden durften sich nebenbei damit rühmen, die Sprengung eines Zuges nahe der Donaubrücken mitansehen zu dürfen und hatten dabei großes Glück von den herumfliegenden Eisenbahnrädern nicht getroffen zu werden.
Ohne viel Nahrung wurde dann halb Niederösterreich zu Fuß durchquert, um dann die letzten Kriegswochen - bei der Großmutter versteckt - ungesehen zu überleben.
Ähnliche Erlebnisse haben auch eine Hand voll andere Menschen durchgemacht, doch niemand kennt die große Zahl derer, die diese Jahre nicht überlebt haben.
Solche Geschichten sind für uns heute reine Fiktion geworden und nur mehr
als Action-Kino vorstellbar.
Und in jenen Filmen zeigt man nicht, wie die Betroffenen von Kriegen
auch nach Jahrzehnten noch mit ihrem Schicksal hadern.
Sie laufen dann scheinbar grundlos beim Mittagessen hinaus, oder man
findet sie alleine sitzend und bemerkt, wie sie sich schnell die Tränen
abwischen, ehe sie sich umdrehen.
Und eigentlich dachte ich, Europa hätte etwas aus seiner eigenen Dummheit gelernt.
Warum also fangen wir heute wieder mit der Debatte an, dass man “vorsorglich” alle Menschen verhaften können soll? War es nicht allgemeiner Konsens, dass ständige in Gesetze gegossene Brutalität von 1918 bis 1938 die Zerstörung halb Europas auslöste und dass wir es nie wieder so weit kommen lassen werden?
Ich bin durchaus dafür, dass man zu laxe Strafmaßnahmen anzieht,
aber eben auf rechtsstaatlicher Ebene durch Expertenkommissionen,
und nicht wegen einzelnen Anlassfällen.
Genau diese Willkür, diese emotional aufgeladenen Schnellschüsse
waren vor 70 Jahren ein Auslöser dafür, was meinem Großvater
zahlreiche Schmerzen und unzähligen anderen den Tod eingebracht hat.
Natürlich ist es plump aktuelle politische Entwicklungen immer gleich
mit der Nazizeit in Verbindung zu bringen … aber leider wiederholen sich
Grausamkeiten in der Menschheitsgeschichte alle 100 Jahre.
Und ältere Ereignisse sind eben nicht so gut dokumentiert und auf
Fotos verewigt, wie es vor 70-80 Jahren der Fall war.
Heute sagen die verschwiegenen dunkelsten Flecken der romantisierten
Kaiserzeit eben niemandem mehr etwas, doch Nazi-Dokus kennt jeder.
Wehret den Anfängen!
Fazit
Neulich teilte mir ein erfahrener Mann in einer Diskussion zur Aktuellen Lage seine Meinung mit:
Wir müssen mit gutem Beispiel voran gehen!
Und damit hatte er recht! Wir müssen wieder Anstand und Rechtschaffenheit hochschätzen lernen und diese Werte aktiv fördern, anstatt nur noch über Verbote und Bestrafung zu sprechen.
Anstatt die Jugend als “abtrünnig” unter Generalverdacht zu stellen, müssen wir Älteren als Vorbilder unserer eigenen Zeit dienen, an denen sich die neue Generation reiben wird und das auch ständig aufs Neue tun muss.
Das wird “uns” Älteren vielleicht viel Zeit kosten und “uns” auch nicht immer gefallen. Aber keinesfalls dürfen wir unsere schlechten Lebenserfahrungen mit einzelnen Personen zu verallgemeinerten Gesetzen und Vorschriften hochstilisieren, an denen unsere Kinder zu zerbrechen drohen.
Die “andere böse Seite” jener vergangenen Zeit des Nationalsozialismus wird
übrigens im von mir sehr geschätzten Spielfilm Napola
dargestellt, der in vielen Szenen aufzeigt, was eine militant geprägte
Gesellschaft anrichten kann und wie man Jugendliche damit zu dressieren
versuchte.
… aber auch welchen Mut junge Erwachsene aufbringen können,
wenn sie den ihnen anerzogenen Lebensweg hinterfragen:
Text-Auszug aus “Napola”: “Der Aufsatz von Albrecht Stein” (gespielt von Tom Schilling):
… ich jedenfalls war in meiner Vorstellung ein Held, der Drachen besiegt und Jungfrauen rettet.
Jemand der die Welt von den Bösen befreit.
Und als wir gestern loszogen um die Gefangenen zu finden, da kam ich mir wieder vor wie dieser kleine Junge, der die Welt vor den Bösen retten will.Doch als wir zurückkamen, da war mir klar geworden, dass ICH selbst Teil des Bösen bin, vor dem ich die Welt immer bewahren wollte.
Gefangene zu erschießen ist Unrecht!
Sie waren weder bewaffnet, wie (mein Vater) Gauleiter Stein angab um uns aufzuhetzen, noch waren es Männer, sondern Kinder,
die WIR erschossen haben.